Räume. Künstler und ein Klo zur Macht In der Luisenstraße 19 eröffnete das Künstlerheim Luise Halbabgestürzter Seiltänzer war schon, Christo gibt's noch nicht - also was ist passiert, daß an einem Freitagabend innerhalb weniger Stunden 500 bis 600 Leute ein schlichtes mittelaltes Haus in Mitte frequentieren; was ist so sensationell, daß die Presse und sonstige Medien verrückt spielen und sich gierig auf ein Thema stürzen? Nichts weiter, als daß in der projektverliebten Stadtmitte eine verblüffend zu einfache wie naheliegende Idee umgesetzt wurde. Der Traum vom Künstlerheim Immer wieder wird die Internationalität der Stadt, die Anziehungskraft auf in- und ausländische Künstler beschworen. Wo diese Künstler wohnen und arbeiten können, blieb offen. An diesem Punkt setzten Torsten Modrow und Mike Buller an, zeigten der ganzen offiziellen Kulturprojekteschwafelei den Daumen und realisierten den alten Traum von einem Künstlerheim für jene, die sich eine Kempinski-Suite weder leisten können noch wollen. Ein Ort zum Wohnen auf kürzer oder länger, zum Arbeiten un Kommunizieren. Elf unterschiedlich große Schlafräume gibt es zum Übernachtungspreis von 30 Mark, einen Salon für Ausstellungen und Veranstaltungen, mehrere Ateliers, eine Gemeinschaftsküche. Ein halbes Jahr Arbeit kostete dieser Traum, nachdem das Gebäude von der WBM angemietet worden war. Entstanden ist ein Haus, an dem alles fasziniert: Idee, Lage, Details. Die Bestimmung als Wohnort auf Zeit ist der Luisenstraße 19 nicht neu: Seit den 20er Jahren war es eine Unterkunft für Studenten - bis 1990. Dann stand das Gebäude leer. Spartanisch ist die Ausstattung der zu vermietenden Zimmer in der oberen Etage immer noch: Bett, Schrank, Stuhl. Der Luxus ist - Kunst. Denn die 11 Räume und eine Kammer wurden von 15 Künstlern unterschiedlich gestaltet: Von der romantischen „Hochzeitssuite" über das Endlos-,,Band der Sympathie" bis zu Siebdrucken auf den Fenstern. In den Zimmern liegen Tag-und-Nacht- Bücher - dort können sich die Gäste verewigen, ihre Erlebnisse und Empfindungen mit und in den Räumen dokumentieren. So ist das Haus nicht nur Anziehungspunkt und Quartier für Künstler, Kulturschaffende und andere Gäste, sondern auch eine ungewöhnliche Galerie auf Zeit. Ihre gutbesuchte Eröffnung war gleichzeitig die des Künstlerheims Luise. Christo, Reichstag und das Klo Es ist schon ein exponierter Ort: Gleich neben der (gerade geschlossenen) „Möwe", im traditionsreichen Viertel um die Friedrichstraße und den Schiffbauerdamm, früher berühmt für seine Bühnen, Varietés und Künstlertreffpunkte, vom Reinhardtschen DT über Brechts Berliner Ensemble bis hin zur Kneipe „Trichter". Anfang der 60er wird aus der Mitte ein Rand: Auch die Türen und Fenster der Luisenstraße werden nach Westen hin zugemauert. Jetzt ist die Gegend mehr denn je Zentrum: Ost und West treffen hier so hart aufeinander wie die unterschiedlichsten Interessen. Von den Fenstern der Luisenstraße aus sieht man den Reichstag, im Minutentakt rattert die S-Bahn an den Hauswänden vorbei. Längst zieht es nicht mehr nur Künstler und Flaneure, Einheimische und Touristen, Bohéme und Gaffer, sondern auch die begehrlichen Blicke von Politikern und Maklern magisch an. "Wer hier lebt und arbeitet, hat es leicht, das Aufeinanderprallen und Davondriften von Ost und West zu hören, jenes Knacken und Reißen zu spüren und zu sehen... Indes tobt der Straßenkampf: Haus für Haus ist Immobilie geworden, die Straßen strategisch wichtige Positionen im Milliardenpoker um die Hauptstadt und politisches Spekulationsobjekt: Tausche Antifaschistin gegen Preußen-Blau, Sozialdemokraten gegen Gestapo-Adresse..." Die „Luise 19" verschließt sich dem nicht, ist kein abgeschotteter Kunst-Ort, sie läßt sich auf ihre Art und Weise darauf ein: Vom leis spöttischen „Reichstagszimmer" bis zum „Klo zur Macht" auch genannt „Projekt K: 5 Quadratmeter Deutschland", das zu Pfingsten eröffnet werden soll. Das Klo als Exklusivplatz zur Beobachtung des Christo-Reichstagsverpackungsspektakels und als Bildungsort, wie die Betreiber meinen. Vermutlich das einzige, auf dem das Grundgesetz zur Lektüre aushängt, ein Monitor Bundestagsdebatten übertragen wird, die Fliege in schwarz, rot und gold gehalten sind und in dessen Waschbecken man sich die Hände in Unschuld waschen kann. Ursprünglich, sagt Modrow, sollte Christo das Klo einweihen, aber seine Manager hätten den Bescheid gegeben, daß Christo ausschließlich sich selbst vermarkte. Tja, sagt Mike Buller mit todernstem Gesicht, dann müßte er eigentlich das Klo verpacken... Eine Antwort á la Luise, das Projekt E nämlich, wird es auf jeden Fall auf das hauptstädtische Ereignis geben.* Derweil hat sich das Christo-Team schon mal die Räume reservieren lassen. Kurz nach der Eröffnung sind die Zimmer für die nächste Zeit fast ausgebucht. Pläne kontra Skepsis Journalisten fragen, Modrow antwortet. Uind: Nein, es stecken keine PDS-Millionen im Projekt. Mit wenigen Mitteln und in Zusammenarbeit mit einer Atelier- und Künstlergemeinschaft ist die Luise entstanden. Während Skeptiker die Zukunft des Low-Budget-Hauses bezweifeln, sprudeln die Ideen, sind die nächsten Projekte schon in Vorbereitung: in anderthalb Jahren wird eine zweite Generation von Künstlern die Räume neu gestalten. Interessierte Künstler können sich dafür im Frühjahr 1996 bewerben. Ein Buch zur Luisenstraße 19 soll in der „Edition Luise" erscheinen, mit Beiträgen zur Geschichte des Hauses, Auszügen aus den Tag-und-Nacht-Büchern und 11 Gute-Nacht-Geschichten. Ab Oktober 1995 stellen die Betreiber der Pension ausländischen Künstlern Räume und ein themenbezogenes Arbeitsstipendium unter dem Motto: „Nur in der Fremde ist der Fremde fremd" zur Verfügung. Damit soll vor allem mittellosen osteuropäischen Künstlern die Möglichkeit geboten werden, in Berlin zu arbeiten. Kein Zweifel, die Stadtmitte wird sich in den nächsten Jahren heftig verändern. Projekte wie die Luisenstraße können.ein notwendiges Gegengewicht zur Bannmeilen- und Beamtenidylle sein. Küntlerheim Luise, Luisenstraße 19, 10117 Berlin, Nähe S-Bhf. Friedrichstraße, Buchungen über Tel. 30 87 05 80 * Für das Projekt E werden übrigens noch 1000 Bettlaken und Bettbezüge (auch gebrauchte) gesucht. 13.-26.04.1995; Scheinschlag; Zeitung aus Mitte; "Räume, Künstler und ein Klo zur Macht"; von turkey